Wozu eigentlich? - Eine notwendige Vorrede





 

 

Nidden ist ein kleines Dorf auf der Kurischen Nehrung. 1945 lag Nidden im Kreis Memel in Ostpreussen und hatte ca. 800 Einwohner. Die meisten der damaligen Bewohner sind 1945 vor der herannahenden russischen Armee geflohen. Heute gehören Nidden (Nida) und das Memelland zu Litauen. Die andere Hälfte der Kurischen Nehrung liegt im Gebiet der russischen Oblast Kalinigrad (Königsberg). Die gesamte Bevölkerung der ehemals deutsch besiedelten Nehrung ist nach Ende des 2. Weltkrieges praktisch ausgetauscht worden.

Heute wird auch in Litauen wieder versucht, die Geschichte vor 1945 zu rekonstruieren: es gibt ein kleines Museum in Nidden, Kontakte zu ehemaligen Einwohnern und deutschen Forschern und das einstige Ferienhaus von Thomas Mann wird als kultureller Treffpunkt und Museum genutzt. Auch litauische Museen bemühen sich mit Ausstellungen und Sammlungen um ostpreussische Künstler, die u.a. die kurische Nehrung gemalt haben. Von Ernst Mollenhauer beispielsweise gibt es seit mehreren Jahren eine virtuelle Austellung des Litauischen Museums für bildende Kunst.

Die Familie meines Vaters stammt aus Nidden und ich möchte hier versuchen, einen Eindruck vom Leben im damaligen Nidden zu vermitteln, Schilderungen zu sammeln und Fotos zu zeigen. Ich glaube, um die eigenen Wurzeln und die Gegenwart verstehen und einordnen zu können, ist eine Betrachtung der Vergangenheit notwendig. Und um sie zu betrachten, muss man allerdings zuerst in der Lage sein, sie überhaupt zu sehen. Dabei darf man nicht vergessen, dass es sich im Nachhinein immer um eine erzählte, erinnerte und konstruierte Geschichte handelt. Daher habe ich zur Veranschaulichung Auszüge aus Orginaltexten aus der Zeit vor 1945 und den frühen 50igern bevorzugt. Denn bei einem "O-Ton" aus der entsprechenden Zeit wird die Perspektivität der Schilderung zu einem Element der Darstellung.

Schon für meine Generation (ich bin 1963 geboren) bedeutet es eine nicht unerhebliche Anstrengung, sich vorzustellen, dass es ein Land von der Größe Nordrhein-Westfalens mit einer 600jährigen deutschen Geschichte, genannt Ostpreussen, überhaupt gegeben hat. Denn dieses Land existiert seit 60 Jahren nicht mehr. Und die, die es noch kannten, sind alt geworden. Aber die Zeugnisse der Geschichte sind vielfältig und noch sprechen auch die Alten.

Allerdings sprechen die Alten nicht so gerne über die letzen Jahre von 1939 bis 45, als das Memelland wieder "heim in Reich" gekommen war. Und die Zeit von 1923 bis 1939 ist politisch insofern nicht ganz einfach - insbesondere für die Litauer - da die Besetzung des Memelandes entgegen den Anordnungen des alliierten Rates (und einer Volksabstimmung) durch das litauische Militär dazu geführt hat, dass Litauen das Memelland für die nächsten 16 Jahre "behalten" hat. Für die dort ansässigen Deutschen eine litauische "Besetzung", für viele Litauer ein rechtmäßiger Akt, der im Nachhinein vom Kontrollrat mit Auflagen - wie einer zweisprachigen Verwaltung - akzeptiert wurde.

So stehen sowohl die Deutschen als auch die Litauer der politischen Geschichte des Memellandes - man könnte sagen - etwas reserviert gegenüber, so dass man zuweilen das Gefühl hat, immer noch auf gefährlichem Terrain zu wandeln. Beide Seiten neigen dazu, die Geschichte eher folkloristisch darzustellen - professionelle Historiker/innen ausgenommen - und die politische Betrachtung eher auszusparen. Nichtsdestostrotz gibt es eine gegenseitige Annäherung und die weitere Entwicklung in Litauen verspricht spannend zu werden.