"Blick auf Nidden"

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von Heinrich A. Kurschat
(Anmerkung zu den Texten)


"Wenn der Dampfer von Memel um den Bullwikschen Haken biegt, breitet sich Nidden am Nehrungsrand. Drei Erhebungen bestimmen die Landschaft, die Nidden zu dem meistgerühmten Dorf der Nehrung macht.

58 Meter hoch ist der mit Latschen bewachsene Angui-Kalns, der Schlangenberg, einer der schönsten Aussichtsberge unserer nordischen Sahara. Er zeigt uns das Dünenband im Norden bis zu dem blauem Streifen des Schwarzorter Waldes und im Süden bis weit über Rossiten hinaus. Der Urbo-Kalns ist vom Angui-Kalns nur durch den Badeweg getrennt. Auf seiner Spitze steht inmitten wilder Rosen der Niddener Leuchtturm, dessen weißes Blinkfeuer bis hinüber zum Festland reicht. Er ist für alle Wanderer ein freundlicher Wegweiser, und seine Besteigung gehört zum festen Programm eines Niddener Urlaubs.

Der dritte im Bunde ist der Parniddener Berg, eine nur zur Hälfte gefesselte Düne, die auf Abstand zu den bewaldeten Brüdern hält. Deutlich ist an ihm zu sehen, wie die bewaldete Hälfte dem Willen des Menschen folgend, stehen blieb, während der unbefestigte Teil weiter nach Osten gewandert ist. Eine Wanderung zum Parniddener Berg ist der Höhepunkt dessen, was Nidden zu bieten hat.

Steigst du von seiner Höhe nach Süden hinab, dann nimmt dich das Tal des Schweigens auf: Sandhänge nach allen Seiten, weißer wellender Sand ohne jede Spur, ohne einen grünen Halm. Nur Sand und unendlicher Himmel darüber, aus dem eine gnadenlose Sonne brennt. Hier ist die Wüste vollkommen.

Nidden ist das grösste Nehrungsdorf. Eigentlich ist es eine Ansammlung von drei oder gar vier kleinen Dörfern, die sich aneinandereihen. Südlich vom Gasthof Sakuth liegt das Hakendorf. Es folgt der Hauptort mit den bekannten Hotels, geschützt vom Walde und den beiden Bergen. Am immer wieder gefährdeten Haffufer liegen die künstlich aufgeschütteten Hofstellen von Skrusdin, dem Ameisendorf. Und weit nach Norden stehen die Fischerhäuser von Purwin im Sand, die infolge ihrer Abgeschiedenheit, das Entzücken aller Maler sind.

Am Fuße des Angui-Kalns, aber noch hoch über dem Dorf liegt die kleine Kirche, um die Kiefern die Wacht halten. Die Fischer lieben das Altarbild, das den vesinkenden Petrus auf den See Genezareth zeigt. Der Friedhof daneben ist verwildert. Die seltsamen Grabtafeln und die überdachten Kreuze sind verwittert. In einer Landschaft, in der die Friedhöfe verwehen und wieder auftauchen, in der immer wieder Fischer nur ein nasses Grab im Haff oder in der See finden, gilt die letzte Ruhestätte nicht viel. Ein hölzernes Totenmal erinnert an Künstler, die Nidden bekannt gemacht haben. Ein abgesägter Eichenstamm ist das Grabmal vom Hermann Blode, dem Niddener Patriarchen, dessen herrliches Hotel in Skrusdin mit der berühmten Haffveranda und dem gemäldebedeckten Künstlerzimmer ein Stück deutscher Kunstgeschichte miterlebt hat. Wenn Schwarzort idyllisch ist, Nidden ist elementar. Hier fliegt der Sand noch auf der Dorfstrasse. Die Wege durch den Wald und die Berge hinauf sind so schmal, als hätte sie nur der Elch getreten. Wenn es auch Hotels mit fließenden warmen und kalten Wasser und ein Elektrizitätswerk gibt, wenn Blode sogar das Vorhandensein einer photographischen Dunkelkammer inseriert - der Haffstrand wird noch immer von Wasser und Eisgang geformt. Der viel gemalte Italienblick hat nicht eine Spur italienischer Lieblichkeit. Hart enthüllt sich der Reiz eines der Natur nur mit Mühe abgerungenen Fleckchens Erde in einem schonungslosen Licht. Die Kiefernkronen sind zerfetzt, die Gartenzäune halb verweht.

Sieh diese Fischer, die barfuß und mit aufgekrempelten Hosen zum Hafen gehen. Niemand ringt schwerer um sein Brot als sie. Kein Getreidehalm wurzelt hier und die wenigen Rücken mit Kartoffeln sind kaum zu rechnen. Selbst das Winterheu für die Kühe müssen sie in ihren großen Kähnen vom Festland holen. Die Fischerfrauen, ja schon ihre Kinder tragen etwas Unergründliches im Blick - als wüssten sie von Dingen, die uns verborgen sind.

Zum Bild Niddens gehören die schornsteinlosen Schilfdächer und die Flotte der Kurenkähne im Hafen. Die weiße Kopftücher der Frauen gehören ebenso dazu wie der bläuliche Rauch, der aus den Flunderkästen neben der Dorfstraße steigt. Der Zug der Niddener Viehherde durch die Dünen zu den kargen Weideplätzen darf darin nicht fehlen. Und natürlich die Künstler und Sommergäste, die mit ihren Extravaganzen zu dieser Melodie archaischer Einfachheit den Kontrapunkt setzen. "

Aus "Wunderland Kurische Nehrung. Bilder einer unvergeßlichen Landschaft".
Oldenburg, 1957. Seite 38-40.