"Wir Jungen von der Nehrung..."

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von Martin Kakies (Anmerkung zu den Texten)

Wie ein leichtgebogener Degen liegt der überlange Landstrich der Kurischen Nehrung zwischen der Ostsee und dem Kurischen Haff, das offene Meer von dem Binnengewässer trennend, das salzige von dem süßen Wasser.

Wir Jungen, die wir auf dieser unserer Nehrung aufwuchsen, in den kleinen durch meilenweite Wanderdünen geschiedenen Fischerdörfern, in den Oasen der Kiefernwälder und auf den blauen Wassern, wir Jungen hatten eine Kindheit voll harter Arbeit. Dafür war sie aber auch angefüllt mit bunten Abenteuern.

Oft suchten wir nach Bernstein, und dabei liefen wir manchmal schon lange vor Anbruch des Tages den Strand entlang. Wer am weitesten vorne lag, wenn die Morgendämmerung die gelben oder braunroten Steine von wertlosem Kiesel und Tang unterscheiden ließ, der machte wohl auch die besten Funde. Die Sammelstelle des Staates bekam die mühsam gesammelte Beute nicht zu sehen, und wenn sie nun heimlich an den Händler mit dem mächtigen Patriarchenbart und dem biblischen Namen Abraham unter zähem Feilschen verschachert wurde, war das beinahe so aufregend wie das Suchen selbst. Das Meer warf auch Strandgut an die Küste, das Schiffe im Sturm über Bord werfen mußten, und wir bargen die Bretter und Balken und Fässer erst im hohen Strandhafer der Vordüne und schleppten sie dann in dunklen Nächten auf heimlichen Waldwegen nach Hause.

Fuhren wir in unseren geteerten Kähnen auf den Fischfang, dann zogen über uns auch die Reiher nach ihren Jagdgründen, und Milane segelten hoch in der Bläue des Himmels. Die fetten Aale, die wir fingen, wurden zu gleißenden Goldstücken.

Im Herbst, wenn wir uns auf den Feldern zwischen Dorf und Wald Kartoffeln im Feuer brieten, zogen Tausende und aber Tausende von Vögeln über uns hinweg ihre uralte Hauptstraße nach Süden. Schar um Schar, Flug um Flug, Kette um Kette - es war ein Fliegen und Eilen und wie ein Flüchten aus der Gefangenschaft in die Freiheit; und aus der Einsamkeit der Dünen staunten wir das fliegende, sich jedes Jahr erneuernde Wunder an: die Adler und die kleinen Falken, die Singvögel, oft noch im Fliegen zwitschernd und singend, die Ringeltauben, anmutig, schnell und überlegend fliegend, und die krächzenden schwarzen Gesellen, die Krähen.

Wir suchten in den Resten von Dörfern, welche die Dünen verschüttet hatten und die sie, immer nach Osten getrieben, nun wieder frei gaben. Von dem hohen Grat, der gewaltigen Sandberge sahen wir fern hinter dem Haff zwischen den Wäldern und Dörfern des Festlandes die Dampfwolken der Eisenbahnzüge wandern, jener Züge, die niemals durch die Einsamkeit unserer Heimat fuhren. Wir liebten Haff und See und den schmalen Streifen aus Sand und magerer Ackerkrume dazwischen. Das Rascheln des Schilfs und das Rauschen des hohen Waldes sangen uns in den Schlaf, und wenn wir frühmorgens aufwachten, waren sie wieder da. Stürmte es ordentlich von Westen, dann hörte man über den Wald auch die Brandung des Meeres.

Am aufregendsten aber waren die Begegnungen mit Elchen; es sind schwere, wehrhafte Tiere, und man sah sie nur selten. Mit den Elen - so nannten wir Jungen von der Nehrung sie immer - wurden wir, als wir noch klein waren, ebenso geschreckt, wie anderswo die Buben mit dem schwarzen Mann. Sie kämen und packten die unartigen Kinder auf die großen Schaufeln und brächten sie in den finsteren Wald. Als ich den ersten Elch sah, acht Jahre war ich alt, da war das ein Erlebnis, das mich ordentlich aufwühlte. Am Rande des großen Waldes, wo die Reiher horsten, pflückte ich rote Erdbeeren und nur der Schrei der Reiher schnitt durch die Stille des Junitages. Da, wie aus dem Boden gewachsen, stand vor mir ein Elch mit mächtigen Schaufeln, die wie mit feinem Samtpelz bezogen waren. Eine Weile äugte mich der Schaufler an, dann kehrte er mir gemächlich seine Rückseite zu, und schon war er verschwunden wie ein Spuk. (...)

So etwa - dem Inhalt nach - lautete das Vorwort, das ich dem Buch mitgab als es im Sommer 1936 zum ersten Mal erschien."

Aus: Martin Kakies. Das Buch vom Elch. Leer (Ostfriesland), 1954, Seite 5-6.