"Mein Sommerhaus"
Thomas Mann mit Familie vor seinem
Sommerhaus in Nidden
Foto: Karl Krauskopf
Man möchte doch auch wieder einmal sein Scherflein beitragen zur Unterhaltung und Belehrung (...)
Ich habe an eine Landschaft gedacht, und zwar an die Landschaft, die mir in letzter Zeit besonders ans Herz gewachsen ist: die Kurische Nehrung. (...) Ich habe eine starke Sympathie für diese Landschaft.
Die Kurische Nehrung ist der schmale Landstreifen zwischen Memel und Königsberg, zwischen dem Kurischchen Haff und der Ostsee. Das Haff hat Süßwasser, das auch durch eine kleine Verbindung mit der Ostsee bei Memel nicht beeinträchtigt wird, und birgt Süßwasserfische. Der Landstreifen ist ca. 96 km lang und so schmal, daß man ihn in 20 Minuten oder einer halben Stunde bequem vom Haff zur See überqueren kann. Es ist sandig, waldig und sumpfig.
Meine Worte können Ihnen keine Vorstellung von der eigenartigen Primitivität und dem großartigen Reiz des Landes geben. Ich möchte mich hier auf Wilhelm von Humboldt berufen, der dort war, und speziell von Nidden so erfüllt war, daß er erklärte, man müsse diese Gegend gesehen haben, wie man Italien oder Spanien gesehen haben müsse ("wenn einem nicht ein Bild in der Seele fehlen soll").
(...)Wir sind im Sommer immer gern an die See gegangen, und man empfahl uns da eines Tages, die samländische Küste zu besuchen. Wir waren schon einige Wochen in Rauschen. Dies ist ein ziemlich triviales Ostseebad, wie es viele gibt, und wir sehnten uns nach etwas anderem. Man schlug uns vor, die Nehrung zu besuchen. Gut, wir fuhren also für einige Tage nach Nidden auf der Kurischen Nehrung und waren so erfüllt vor der Landschaft, daß wir beschlossen, dort Hütten zu bauen, wie es in der Bibel heißt.
Dies ist zwar bei uns nichts Neues, denn wir beschließen es phantasieweise fast überall. sei es bei St.Moritz oder Assuan. Aber diesmal war es ernster. Der Eindruck war tief. Man findet einen erstaunlich südlichen Einschlag. Das Wasser des Haffs ist im Sommer bei blauem Himmell tiefblau. Es wirkt wie das Mittelmeer. Es gibt dort eine Kiefernart, Pinien ähnlich. Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben in Nordafrika zu sein. (...)
Im Osten über dem Haff steigt morgens die Sonne auf. Das Haff ist das Hauptarbeitsgebiet der Fischersleute. Im Fischerdorf findet man am den Häusern vielfach ein besonders leuchtendes Blau, das sogenannte Niddener Blau, das für Zäune und Zierate benützt wird. Alle Häuser, auch das unsere, sind mit Stroh - und Schilfdächern gedeckt und haben am Giebel die heidnischen gekreuzten Pferdeköpfe - genauso machte man es bei unserem Haus.
(...) Wie ich schon sagte, ist das Haff das Hauptarbeitsgebiet der Fischer. Jeden Nachmittag sieht man ihre kleine Segelflottille, wenn das Wetter es nur irgend erlaubt, hinausfahren. Sie fischen nur nachts und kehren morgens zurück mit Hechten, Zandern. Schollen und Aale kommen aus der Ostsee. Mit russisch anmutenden Wägelchen werden sie von ihren Frauen mitsamt der Beute abgeholt.
Der Menschenschlag ist unschön, aber sehr freudlich. Er hat starken slawischen Einschlag mit starken Backenknocken, blauen wäßrigen Augen. Sie sind dreisprachig und sprechen deutsch, litauisch und kurisch. Wenn sie deutsch sprechen, wirken sie wiederum sehr russisch. Litauisch und kurisch sind eigentümliche Sprachen. Litauisch hat einen leichten russischen Einschlag. Kurisch soll dem Sanskrit sehr nahestehen, so nahe wie sonst keine heutige Sprache.
Dieser Vortrag "Mein Sommerhaus" wurde von Thomas Mann bei der Zusammenkunft des Rotary Clubs München am 1.Dezember 1931 gehalten. Erstmals erschienen in: "Beilage zum Wochenbericht IV/22 des Rotary Clubs München", Dezember 1931